KRAFTSPUREN

Ausstellung im Keramikmuseum Staufen

Einführung von Volker Bauermeister (Kulturjournalist), Freiburg

 

Lebendige Dinge.

Über Jochen Rüths Gefäße.

 

Tonplastiker ist Jochen Rüth. Die Möglichkeiten des keramischen Werkstoffs tastet und testet er vielfältig aus. Seine „Schichtungen“ und „Einschnitte“,

„Durchbrochenen Quader“, „Durchbrochenen Zylinder“, „Twistet Forms“ und „Transformationen“ – lapidare Handlungsformen sind es. Handwerk bindet Rüth

einleuchtend in ein künstlerisches Konzept. Die gefäßhafte Wandung hat er vom dienlichen Gefäß gelöst und freigestellt als „Hülle“ oder „Kokon“.

Seine „Geoden“ sind eigentümliche Gefäße: Rundkörper, die – aufgebrochen – ein Innenleben zeigen. Der Name „Geode“ sagt klipp und klar, wie nah

die plastische Arbeit dem geologischen Fundding kommt. Immer wieder wird deutlich, dass Rüth Plastik von den Erscheinungsformen der Erdkruste,

von der Formgewalt vulkanischer Natur her versteht. Die gestaltende Kraft des Feuers ist ihm durch die Arbeit in der Werkstatt vertraut.

Doch was dem Formkünstler Rüth, den Sie hier nach 17 Jahren zum zweiten Mal in Staufen sehen, bei alldem vor Augen bleibt, was ihn über die Zeit

ganz unvermindert reizt, das ist, wovon er ausging. Schale und Vase sind nicht abgetan. Und das sollte ohnedies klar sein:

Nicht nur wo Dinge den praktischen Nutzen verweigern, sind sie Kunst. Dass etwas als Schale oder Vase zu etwas taugt,ist nicht das kleinste Manko.

Es sind Gefäße, die in dieser schönen Schau zusammenfinden. Komplementär zu den auf der Scheibe gedrehten Porzellanen kommt auch zur Geltung,

womit Rüth sich weit entfernt von der vertrauten Gefäßkeramik. Er spricht von „skulpturalen Vasen“. Darauf zuerst will ich schauen.

Kompakte, raue Brocken sind dies, die kantig, scharfgratig und schrundig, im Raum stehen. In ihrem Äußeren bildet sich ihre bewegte Geschichte ab.

An tektonische Prozesse lassen die zupackend gestalteten Vasen denken. Den Werkstoff, den Quader aus Ton bearbeitet Rüth mit Kanthölzern.

Mit Holzkeilen, wie er sagt, „durchpflügt“ er ihn. Und wahrt zur selben Zeit mit klarem Blick die Kontrolle. Wenn ein erreichter Zustand als Ergebnis tragfähig

scheint, dann heißt es aufzuhören, das Werkzeug zu wechseln. Erstmals ist da Feuer gefragt; ein Gasbrenner wird zum rigorosen Trockner. An den Feuersturm

schließt der Akt der Öffnung an, der den Formblock erst zum Gefäß macht. Dies Pfählen mit dem Rundholz ist ein kritischer Moment, eine echte Zerreißprobe.

Wie es weitergeht auf dem Weg zur Vase, erklärt der Plastiker so: „Die bei 950 Grad vorgebrannten Objekte werden dann etwa eine Stunde in eine Salzlösung gelegt.

Das aufgesaugte Salz wandert bei der anschließenden Trocknung an die Oberfläche und führt beim folgenden 1300-Grad-Brand zu Sinterungen und Verschmelzungen.“

Eine Gruppe älterer skulpturaler Vasen beschreibt Rüth treffend, wenn er sagt, dass sie „den Eindruck vermitteln, als wären sie aus einzelnen Quadern

zusammengesetzt“. Da wurde die Oberfläche noch nicht mit dem Holz traktiert. Doch auch ihnen rückte er schon mit dem Brenner zu Leibe und den Tonklotz

öffnete er bereits mit dem Rundholz. Wenn das brachiale Vorgehen die Form gefährdet, im Bild der Vase das ihrer Zerstörung aufscheint: Unrecht ist es ihm nicht.

Das vexierbildhafte Ineinander von Aufbau und Einsturz verspricht ja Spannung noch und noch.

Ein Aktionist ist Rüth bei diesen Wagestücken, ein impulsiv Handelnder, aber mit einer klaren Idee vom Handlungsmuster, vom Wie und Warum der Aktion.

Was herauskommt, ist jedes Mal ein keramisches Novum. Halb Plastik, halb Skulptur. Rüth formt die gefügige Werkmasse, indem er sie zuhaut.

Taille directe ist dafür das Wort. Nur geht es hier eben nicht wie gewöhnlich um Holz oder Stein.

Wo die irdenen Körper Gesteinsstücken gleichen, erinnern sie an eine Spezies altchinesischer Skulptur: die seit der Song-Zeit über Jahrhunderte hin geschätzten

Sammler- oder Gelehrtensteine. Um Kalkstein handelt sich‘s zumeist, mit dicht strukturierter Oberfläche, von vielfach durchbrochener, stark gegliederter Statur.

Dem imposanten „Gipfel für den Garten“ entsprach die Plastik im Studio des Literaten und Beamten en miniature. Als Gleichung der großen wirkenden Natur

galt das eine wie das andere.

Früher erkannte man im Fernen Westen bloße Fundobjekte darin. Unterdessen ist klar, dass ein Eingriff nicht ausgeschlossen – Menschenhand im Spiel war.

Auch konnten solche Skulpturen als Angewandte Kunst verstanden sein: Pinselhalter, Tuschreibstein. Dem hohen Ansehen stand Zweckdienlichkeit nicht im Weg.

Ein überlieferter Lehrsatz illustriert den Gedanken dieser Kunst. „Wenn ein Stein nicht durch die Kraft der Natur wie ein gemaltes Bild erscheint, sollte man ihn nicht

wählen." Steine wurden gesammelt, wenn sie einem ästhetischen Ideal nah kamen. Am Stein der Wahl konnte, zum Zweck der Vollendung, mit dem Meißel

„weitergemalt“ werden, im Stil der Tuschmalerei. Natur und Kunst wurden tätig ineinander gedacht. Man wollte im Alten China das eine im andern wiederfinden.

In Europa waren in den vormusealen Kunst- und Wunderkammern Naturalien und Artefakte auch schon vereint. Kunstwerke der Natur griff man künstlerisch auf;

reich gefasste Nautiluspokale wären als Beispiel zu nennen. Wohlbekannt sind die Liebe des Manierismus für die phantastischen Formen der Muscheln und

die Rocaille – das Muschelwerk des Rokoko.

Doch die Idee einer der Natur verschwisterten Kunstpraxis kam erst mit der Moderne auf, mit einer neuen Wertung der künstlerischen Mittel, mit einem das Abbild

konterkarierenden „Inhalt der Form“ (Werner Hofmann), einem auf die Formprozesse gerichteten Denken.

Richard Bampi, der große Kanderner Keramiker, dessen Namen der Förderpreis trägt, mit dem (1990) auch der junge Jochen Rüth ausgezeichnet wurde – Bampi

zitierte den Zeitgenossen Hans Arp mit einem Satz, der den eben angeführten chinesischen sozusagen in spiegelbildlicher Umkehrung wiedergibt.

Ein Kunstwerk solle, so Arp, aussehen: „als hätte ich es am Meeresstrand gefunden“. Anregung fand Arp bei diversem Schwemmholz und Steinen, zum Beispiel

auch am Ufer des Lago Maggiore. Oder in den Gletschermühlen des Maggiatals.

In dieser intimen Nähe zum Natur-Ding, mit dieser Liebe zur gestaltenden Natur steht Arp nicht allein.

Die Arte povera setzt dann später Kunst und Natur pointiert in eins. Giuseppe Penones „Essere Fiume“ ist ein denkwürdiges Stück aus zwei Steinen:

einem, der einem Flussbett entnommen wurde, und einem der der Arbeit des fließenden Wassers handwerklich folgt und zum Verwechseln nah kommt.

Und das scheint allemal klar: In Rüths rauen Vasen hier im Haus stellt sich auf eine eigene Weise Kunst und Natur im Sinn einer Wahlverwandtschaft dar.

Vom Keramiker Rüth wissen wir ja obendrein, dass er ein Sammler von Steingebilden, Lavabrocken, vom Wasser geschliffenen Hölzern ist.

In derlei unwillkürlichen Schöpfungen reflektiert sich Naturkraft. Ein dauerndes vitales Werden, für das der Keramiker die keramische Antwort sucht.

Von den künstlerischen Dingen verlangte ein Richard Bampi, dass sie „lebendig“ seien. Was Rüth bei seiner Suche begegnet, das sind solche von Bampi

geforderten „lebendigen Dinge“. Auf unvermutete Weise verwirklicht sich darin nun auch in der Gefäßkunst, was der romantische Maler und Naturphilosoph

Carl Gustav Carus in den „Briefen über Landschaftsmalerei“ als „Erdlebenbilder“ beschrieb.

Jochen Rüth, in Würzburg geboren, „aufgewachsen“ im Ostallgäu. Im Allgäu früh auf Erfahrungssuche auf dem weiten Feld der Keramik.

Ein brennend wissbegieriger Feldforscher war und ist er. Seit langem lebt er in Altisheim bei Donauwörth. Die alte Schreinerei dort ist sein Ort

für keramische Exkursionen. In Altisheim entdeckt er noch beständig Neuland.

Japan hat Rüth viel gegeben, Raku, Shinoglasuren, Hidasuki nicht zuletzt, die graphische Feuerschnurtechnik mit dem in Salzlauge getränkten Stroh.

Ein Japan-Jünger ist er darüber nicht geworden. Nach Staufen ins Keramikmuseum bringt er Porzellan mit klassisch chinesischen Glasuren mit.

Ein neuer Gasofen hatte sein Interesse an Ochsenblut und dem dezent grünen, unendlich nuancenreichen Seladon befeuert.

Um die Wirkung der Farben zu optimieren, kam er aufs Porzellan. Vasen und Schalen dreht er im gleichmäßig klaren Rund. Dabei pflegt er mit der Glasur

einen verblüffend freien Umgang. Das eisenhaltige Seladon und das kupferhaltige Ochsenblut verwickelt er gar in ein Wechselspiel. Dunkle Schattierung schafft ihm

eine schwarze Unterglasur, in die er die Gefäße eintaucht, wo und soweit er dies braucht.

Auch hebt er die schimmernde Glasur in der ihr eigenen Flüssigkeit hervor. Man meint sie noch förmlich über den Scherben abwärts rinnen zu sehen.

Sich verdickend unten am Saum, gegen den nackten Fuß hin, Tropfen bildend und Nasen. Es löst sich vor unseren Augen die bewegliche Masse auch einmal

vom Trägerrund und streckt einen Fühler gegen den Boden aus.

„Erdkrusten und Glasurflüsse“ war die Ausstellung betitelt, die auf dem Programm des Keramikmuseums im ersten Corona-Jahr 2020 stand und dem Lockdown

zum Opfer fiel. „KraftSpuren“ heißt sie jetzt im zweiten Anlauf. Unverändert ist das Konzept. „Erdkrusten und Glasurflüsse“ bezeichnete zwei unterschiedliche Hälften.

Der neue Name zieht die Exponate dagegen schlüssig in eins. Denn was gegensätzlich scheint, ist kein wirklicher Widerspruch. Es prägt das vermeintliche Zweierlei

ein Gedanke. Auch in den glatten farbigen Flüssen stellt sich elementar Handlung dar, nicht anders als in den rauen Krusten.

Im Erscheinungsbild der Dinge ist Formgeschichte gegenwärtig und Farbgeschichte zudem.

Dass bei den „KraftSpuren“ in Glasurflüssen und Erdkrusten die Hände zweier Künstler beteiligt gewesen seien, mag einer vielleicht glauben.

Wir wissen, dass dem so nicht ist. In der einen Werkstatt, aus der beides kommt, verdanken sich die Porzellane wie die skulpturalen Vasen selbst auch einem Brand.

Der Gasofen, in dem die Skulpturen unten, gebettet in Holzkohle und Sägespäne, ihren Platz finden, ist im oberen Drittel mit dem Porzellan befüllt.

Bei 1300 Grad wird dies beides reduzierend gebrannt. Und noch jedes Mal gespannt erwartet, was als Ergebnis herauskommt.

Wenn sich bloß ein schon Bekanntes, sicher Gekonntes reproduzieren würde, Jochen Rüth hätte wenig Gefallen daran. Er sucht, was am Ende unkalkulierbar bleibt.

Er rechnet mit dem Unberechenbaren. Wenn etwas aussieht, als wäre es – zumindest ein Stück weit – von sich aus entstanden, erst dann gehört ihm sein Interesse.

Bei Erdkrusten wie Glasurflüssen stellt sich präzis der Eindruck ein: Da ist etwas, das hat ein eigenes Gesicht, das keiner vorzeichnen kann.

Und sollten seine Vasen als Vasen Gebrauch finden, ist ihm das lieb. Ikebana – das japanische Blumenstellen – ist eine naheliegende Möglichkeit,

auch und gerade die naturhaften Vasen-Skulpturen sich zu eigen zu machen und verstehen zu lernen.

Die wohldosierten Farben der Blüten und Blätter, die zarte Graphik der Stängel und Zweige ergänzt kontrastreich und stimmig die kraftvollen erdfarbenen Gefäßkörper.

Die sind das Terrain, das Boden-Stück, aus dem heraus sich die lebenden Blumen (nichts anderes meint das Wort Ikebana) erklären.

Sie als Werkzeug praktizierter Blumenliebe – sie so als Angewandte Kunst zu betrachten, nimmt ihnen nichts: Es bereichert die Skulpturen.

 

Volker Bauermeister